Arbeit mit Sexueller Gewalt, Gewalt, Missbrauch
Sexuelle Gewalt, vor allem wenn sie, wie leider so oft der Fall, bereits früh im Kindesalter verübt wurde, beeinträchtigt das weitere (Er-)Leben meist massiv. Fast alle Lebensbereiche, privat und beruflich, von der Schlaf- und Entspannungsfähigkeit über körperliche Belange wie die Infektabwehr, die Beweglichkeit, die Verdauung oder Schmerzen bis hin zu Bereichen wie Kreativität, Selbstverwirklichung, Flexibilität, Kraft, gesunder Macht, Wut und auf jeden Fall die Beziehungsfähigkeit, das Erleben wohltuender, gesunder zwischenmenschlicher Nähe, Kontakte und Sexualität werden stark bis sehr stark von der erlebten Gewalt eingeschränkt bis teilweise unmöglich gemacht.
Sexuelle Gewalt findet fast immer im sehr nahen persönlichen Umfeld statt und steht nur äußerst selten für sich alleine. Diese Form von Übergriffen und Machtmissbrauch kann nur stattfinden, wenn sie durch das Umfeld ermöglicht wird, vor allem, wenn sie wiederholt stattfindet. Das bedeutet, dass es selten nur einen Täter oder eine Täterin gibt sondern in den meisten Fällen mehrere oder sogar eine ganze Reihe von Tätern, Mittätern und stillschweigenden Mitwissern.
Diese erschreckende Tatsache kann erklären, warum Opfer sexueller Gewalt im weiteren Leben oft solche Probleme entwickeln, überhaupt wieder Kontakte zulassen zu können, geschweige denn intime. Vertrauen in eine Welt aufzubauen und zu erhalten, wo von vielen oder sogar allen Seiten Gefahr drohte, wo eigentlich Sicherheit, Schutz, Vertrauen und Liebe erlebt werden sollte, ist sehr schwer.
Der ganze Mensch, der Körper, die Emotionen, die innere und äußere Wahrnehmung, die moralische und spirituelle Ausrichtung, das tiefe Vertrauen in die Welt, die Mitmenschen, das Leben, genauso wie die uns allen angeborene tiefe Menschenwürde, werden beeinträchtigt oder zerstört.
Die mögliche Symptomatik während und nach dem Erleben sexueller Gewalt ist vielfältig. Wichtig zu verstehen ist, dass sie sich bei weitem nicht nur auf die Psyche beschränkt. Unser ganzes Menschsein wird durch Gewalt, sei sie nun verbal, psychisch, spirituell, physisch oder sexuell gestört und eingeschränkt. Der Körper leidet genauso wie die Seele und nur im Verbund, in Verbindung und im Kontakt von allem mit allem kann Veränderung in eine neue, gesündere, freiere und entspanntere Richtung geschehen.
Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, brauchen eine ruhige, sichere, klare, gut und verständlich strukturierte Umgebung, in der sie lernen dürfen, sich zu orientieren, gesundes Misstrauen zu haben, Stück für Stück wieder oder zum ersten Mal anzukommen. Sie dürfen dort erfahren, wie es gehen kann, sich selbst wieder zu spüren, seine Gefühle und Bedürfnisse. In kleinen Schritten, ganz langsam und vorsichtig. Denn Trauma geschieht immer in Überflutung, im ausgeliefert sein und im Bearbeitungsprozess wollen wir genau das Gegenteil. Langsame, sehr bewusst dosierte Forschungs- und Entdeckungsreisen zu sich selbst im Hier und Jetzt fördern und ermöglichen überhaupt erst Interesse, Neugierde oder Freude, wo zuvor meist nur Taubheit, Zerstückelung und Abgetrenntsein herrschte.
Es kann an dieser Stelle wichtig sein, zu wissen, dass die Bearbeitung von sexuellen Traumata möglich ist, ohne immer wieder die alten Erfahrungen erzählen und durchleben zu müssen. Ganz im Gegenteil, die Arbeit zielt darauf ab, im Hier und Heute zu bleiben und endlich auf allen Ebenen fühlen zu können: Es ist vorbei!
Es gilt, sich selbst und die Reaktionen von Körper und Nervensystem auf Stress und Gefahr aber auch auf Ruhe und Sicherheit und alles dazwischen kennenzulernen und emotional und körperlich zu begreifen. So wird es langsam, Stück für Stück möglich, sich, seine Geschichte, seine Reaktionen einsortieren und langsam ertasten zu können. Es gilt, sich und seine Sinne wieder aufzuwecken, auch hier sehr langsam. Denn aus der Vermeidung, dem Verstecken und Erstarren wieder aufzuwachen ins Sehen, Hören und Fühlen, kann weh tun. Aber mit einer zuverlässigen und ruhigen Begleitung ist vieles möglich und Schritt für Schritt lernt der Mensch, der sich vorher oft als „defekt“ oder „unmenschlich“ beschrieben hat, sich selbst als höchst menschlich, als fühlendes Wesen kennen, das, ganz achtsam, wieder lernen darf, mit sich selbst und anderen in Kontakt zu gehen und in Beziehung zu treten. Diesmal auf sehr viel gesündere und wohltuendere Art.
Er darf verstehen, dass all die merkwürdigen und teils sogar erschreckenden Symptome und Zustände seines Lebens höchst sinnvolle Antworten seines Körpers auf die erlebte Gefahr waren, die heute aber nicht mehr notwendig sind.
Damals hatten Sie keine Wahl. Heute haben Sie sie!