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Tiere und inneres Wachstum

Ein persönlicher Bericht

Menschen, die mit Tieren leben, haben vielleicht schon eine Idee, was diese Überschrift bedeuten soll. Vielleicht unterstützt nicht jedes Tier, mit dem wir in Kontakt kommen, unser inneres Wachstum, oder nicht jedes gleich intensiv. Oder wir nehmen es bei dem einen stärker wahr als bei dem anderen. Oder wir können uns der Einladung (manchmal eher Aufforderung) zur inneren Veränderung öffnen oder jetzt noch nicht.

Ich lebe, bis auf wenige Jahre Unterbrechung, mein gesamtes Leben mit Katzen zusammen. Daneben gab es viele andere Tiere, vom Hamster bis zum Pferd aber Katzen waren eigentlich immer da. Vor vielen Jahren lebte ein wunderschöner, eleganter weißer Kater bei mir. Seine Mutter war mir und meinem damaligen Partner hochschwanger zugelaufen, sie hatte sich uns offenbar ganz gezielt ausgesucht, denn nur wir wurden von ihr angemaunzt, Nachbarn links liegen gelassen. Nach knapp einer Woche warf sie fünf entzückende Katzenwelpen, von denen wir zwei behielten, unter anderem den weißen Kater. Von einem knuddeligen Welpen wuchs er heran in einen quirligen Teenager und einen forschen aber zuckersüßen Jungkater. Als er zwei Jahre alt war, trennten mein Partner und ich uns und ich zog mit den beiden Katern in eine neue Wohnung. Hier begann der Weiße zunehmend, seinen Platz einzunehmen. Subtil zuerst und immer stärker später baute er sein Training auf, seine Meisterschaft entwickelte er im Themenbereich „Grenzen“ und brillierte darin wiederholt auf höchster Ebene. Völlig tiefenentspannt forderte er mich Tag für Tag, Stunde für Stunde aufs Neue heraus.

Nachts fand er die unmöglichsten Wege, um auf das Fensterbrett meines im zweiten Stock befindlichen Schlafzimmerfensters zu gelangen und dort dann so lange zu sitzen und lautstark zu miauen, bis ich entnervt aufgab, um ihn herein zu lassen. Dort wollte er dann aber gar nicht sein sondern marschierte schnurstracks zur Wohnungstür, um wieder rausgehen zu können. Wer Katzen kennt, kennt wahrscheinlich solche Situationen. Dieser Kater aber spulte sie mit einer solchen Vehemenz und Konsequenz immer wieder ab, er war ein Kater mit einer Mission. Nacht für Nacht das Brüllkonzert auf dem Fenstersims, gerne auch mehrmals. Morgens dann eine scheinbare Unentschlossenheit „will ich rein oder doch wieder raus?“ immer untermalt mit deutlichen Tönen. „Das Futter mag ich nicht... nee, das auch nicht. Gib mir mal das vorherige nochmal!“. Der Putzschrank war für Katzen verboten, der andere Kater akzeptierte diese Regel, ohne mit dem Schnurrhaar zu zucken, der Weiße auf keinen Fall. Natürlich lernte er, wie man Türen öffnet, beobachtete genau, wenn die Tür zum Putzschrank offen war, um sofort hineinzuflitzen (nicht, dass er darin etwas anderes wollte, als einfach nur darin zu sein), einmal schaffte er es rein, ohne dass ich es bemerkt habe und brüllte dann hinter verschlossener Putzschranktür so laut wie er konnte, um dann, als ich ihn retten wollte, ganz genüsslich sein glänzendes Fell zu putzen, als wollte er sagen: „Guck mal! Ich bin im Putzschrank!“.

Lag ich im Bett oder auf dem Sofa, kam er gerne dazu. Grundsätzlich ist es etwas herrliches, mit einer Katze herumzuliegen und dem Schnurren oder Atmen zu lauschen. Nicht immer so bei diesem Kater. Der andere legte sich, nachdem er es als kleiner Kater schnell eingesehen hatte, auf Körperbereiche, die mir und ihm angenehm waren, ganz easy. Natürlich nicht der Weiße. Ich wollte ihn nicht gerne auf meinem Bauch haben (zu schwer) und auch nicht so gerne auf der Brust (er legte sich grundsätzlich so, dass ich durch sein Fell atmen musste, auf Dauer eher unangenehm). Er hätte x andere Stellen nutzen können, sich in meine Armbeuge kuscheln oder auf den Beinen liegen können, nein, er legte sich auf meinen Bauch. Ich schob ihn freundlich runter. Er legte sich sofort wieder auf meinen Bauch, ich schob ihn wieder runter, er legte sich sofort wieder auf meinen Bauch... das wiederholte er ohne Probleme zwanzig Mal, mit Vorliebe nachts um halb zwei.

Ein letztes Beispiel. Ich betrete die Küche und der Weiße sitzt auf dem Tisch. Das soll er nicht, das weiß er genau. Ich bedeute ihm, dass er da runter gehen soll. Er weicht meiner Hand genau soweit aus, wie er muss und bleibt dann da sitzen. Ich bewege mich hinter ihm her, er weicht aus. Der Tisch ist so groß, dass ich ihn nicht mit einer Bewegung umfangen kann, dieses Spiel könnte also endlos so weiter gehen. Eine Möglichkeit war, ihn dann zu ignorieren, woraufhin er Stufe 2 einlegte: er blieb auf dem Tisch sitzen und schob ganz, ganz langsam irgendetwas, was ebenfalls auf dem Tisch war, zur Tischkante. Er wusste, dass ich das Geräusch höre. Da ich wusste, was genau auf dem Tisch liegt und dass genau das nicht auf die Fliesen fallen soll, musste ich reagieren. Sobald ich mich umdrehte, war das Objekt vergessen und er verfolgte zufrieden schnurrend eine Fliege oben an der Zimmerdecke. Kaum wandte ich mich wieder ab, erfolgte wieder das schleifende Geräusch.

Und so weiter, und so fort.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich habe diesen Kater heiß und innig geliebt, wie auch seinen Bruder, wie überhaupt alle Tiere, die gekommen sind, um mit mir zu leben. Das Verhältnis zu diesem weißen Kater war besonders intensiv, weil besonders herausfordernd. Sein Bruder ging hinter seiner mächtigen Präsenz völlig unter und konnte sich erst (auch physisch!) nach dem viel zu frühen Tod des Weißen zu einem wahren Prachtkater entfalten. Und diese mächtige Präsenz hat mich fünf Jahre lang fast täglich zur Weißglut getrieben. Ich bin vorher nicht und auch nachher nicht im Entferntesten von einem Tier derart konsequent provoziert und dazu aufgefordert worden, meine Reaktionen und Handlungen bewusst zu erleben und beeinflussen zu lernen. Er war eine Seele von Tier, die Ruhe selbst, konnte kuscheln bis zum Umfallen und hat in seiner stillen, ruhigen Art an mehreren Wohnorten die gesamte Katzennachbarschaft von Tag eins an unter seiner Kralle gehabt. Genauso wie mich.

Ich habe tiefste Verzweiflung und Hilflosigkeit mit diesem Tier erlebt und ich meine wirklich „tiefste“, genauso wie tiefe, tiefe Liebe und Zuneigung. Der weiße Kater wäre der perfekte Hundemensch gewesen mit seinem ruhigen Erfassen der Situation und seiner absoluten, unbeugsamen Konsequenz. Er hat sich tatsächlich ungewöhnlich stark für Hunde interessiert, die wiederum nach einem Blick einen sehr klugen Bogen um ihn gemacht haben. Man stelle sich folgendes Bild vor, ein ziemlich großer, sicherlich sehr starker, langhaariger Hund scharwenzelt neben seinem Menschen die Straße herunter und erblickt den weißen Kater, der, winzig neben dem Hund, hoch aufgerichtet und königlich auf dem Bürgersteig Hof hält. Der Hund stockt, nimmt sich zusammen, senkt die Rute und die Ohren, wechselt vielleicht sogar auf die andere Seite seines Menschen und schleicht möglichst leise am Weißen vorbei. Solche Szenen haben wir zuhauf beobachten können.

Der Weiße ist mit sieben Jahren viel zu früh an einer tiefen Beckenvenenthrombose gestorben. Bzw. ich musste ihn einschläfern lassen. Die Entscheidung musste ich innerhalb von wenigen Augenblicken fällen. Ich kam abends von einer Veranstaltung nach Hause und er begrüßte mich draußen vor der Tür mit einem Miauen, das mir sofort zeigte, dass etwas nicht in Ordnung war. Aus völliger Gesundheit heraus, so schien es, humpelte er plötzlich vor mir her und konnte nur mit Schwierigkeiten die Treppe erklimmen. So wundersam, wie vieles mit diesem Tier war, so wundersam war meine innere Ruhe, gepaart mit einer tiefen Traurigkeit. Ich hatte es „irgendwie“ gewusst, dass dieser Kater früh und dramatisch gehen würde, bis zuletzt hat er mich dazu eingeladen, genau hinzusehen, klar zu sein und bewusste Entscheidungen zu treffen. Kein vielleicht, kein wenn oder später. 10 Minuten lang habe ich an diesem Abend so getan, als hätte er sich nur das Bein vertreten, während mir die Tränen über das Gesicht liefen und ich den Zetteln in der Hand hielt. Den Zettel, den ich, und das ist wirklich so passiert, zwei Wochen zuvor auf die Kommode gelegt hatte. Darauf stand die Notfallnummer der nächsten Tierklinik. Ich hatte es gewusst und nun war es soweit und ich war dafür zuständig, die größte und schwerste Entscheidung überhaupt zu treffen und zwar jetzt gleich. Aus verschiedenen Gründen kannte ich mich mit diesem Krankheitsbild gut aus und konnte die Symptome richtig deuten. Es gab keinen anderen Weg, eine Operation wäre riskant, sehr teuer und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit völlig aussichtslos. Denn dieser Kater hatte von Geburt an einen sehr seltenen Herzfehler und dieser Tod war immer eine Option gewesen.

Der Weiße war, nachdem er mich vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, völlig ruhig. Ich sah ihm an, wie stark die Schmerzen sein mussten aber er atmete tief auf meinem Arm, kuschelte sich an mich und schnurrte. Ich gab uns ein paar Augenblicke, in denen ich mich für seine ganze Mühe, sein ganzes Lebenswerk bedanken konnte. Er drückte sich gegen meine Brust und wurde ganz sanft und weich. Auch diese Seite hatte dieser große Lehrer.

Die Fahrt zur Klinik war kurz und schnell, da nachts kaum Verkehr war, ich hatte vom Auto aus Bescheid gegeben, der Tierarzt stand bereit und bestätigte meine laienhafte Diagnose sehr schnell. Er wollte gerade beginnen, mir von einer Operation abzuraten als ich ihn bat, mir ein paar Minuten zum Abschied zu geben. Zu diesem Zeitpunkt hatte der liebe Weiße schon starke Schmerzmittel bekommen und lag in seiner ganzen Pracht auf der Seite auf einer warmen Decke auf dem Behandlungstisch.

Ich konnte spüren, dass ich genau die richtige Entscheidung getroffen, dass ich gut gehandelt hatte. Dass es jetzt gut war.

Dass die letzten Jahre meiner persönlichen Ausbildung in Sachen Grenzen, Präsenz und Klarheit mit diesem Mentor zu einem Ende gekommen waren. Der Weiße hatte sein Werk vollbracht und hatte sich entschieden, zu gehen.

Die Zeit, hockend vor dem Behandlungstisch, gehört zu den schwersten, traurigsten aber auch am tiefsten berührenden Momenten, die ich jemals mit einem Tier erlebt habe.

Der Weiße war schon sehr weit weg, als der Tierarzt ihm wunderbar sanft und liebevoll die letzte Spritze gegeben hat. Dieser große, strahlende Meister ist in der für ihn typischen tiefen Ruhe gegangen.

Warum schreibe ich das hier so ausführlich? Nicht jeder macht derartige Erfahrungen mit einem Tier, jede Tierpersönlichkeit ist anders, der Weiße war einzigartig, genauso wie jedes andere Tier. Sein Bruder konnte nach seinem Tod zu voller Größe heranwachsen, als wäre jetzt erst genügend Raum für ihn vorhanden. Mit sieben Jahren hat er tatsächlich noch mehrere Kilo Körpergewicht zugelegt und den Rest seines langen Lebens als ein ebenfalls sehr ruhiger, gelassener, milder, freundlicher aber ebenfalls sehr klarer Kater über die Nachbarschaft geherrscht. Was für ein Brüderpaar!

Ob Maus, Katze, Hund oder Pferd, Lama, Kuh oder Wellensittich. In jedem Tier kann ein großer Lehrer stecken. Wir können so viel erfahren, erleben und lernen, wenn wir uns den Tieren öffnen. Mitgefühl und Liebe lehren meiner Erfahrung nach eigentlich alle Tiere. Jedes einzelne „Schlachtvieh“ (was für ein furchtbarer Begriff!) oder „Nutztier“ lehrt uns Milde, Mitgefühl, Güte und Verantwortung, allein durch seine Existenz und seinen Stand in unserer Gesellschaft. Viele Tiere lehren uns Präsenz und Aufmerksamkeit, indem sie ihre Bedürfnisse oft nicht alleine befriedigen können. Wie oft sieht man übergewichtige Tiere mit stumpfem Fell, Kaninchen, die im Sommer ohne Schutz und Schatten im Gehege in praller Sonne stehen, Hunde, die achtlos an der Leine über den Bürgersteig gezerrt werden, einsame Katzen hinter Fensterscheiben, Kühe auf Weiden ohne Schatten und Wasser, Pferde in hermetisch abgeriegelten Boxen, von oben bis unten in Schutzkleidung eingepackt, damit sie bloß nicht durch irgendeine Verletzung die verrückten Investitionen zunichte machen, die ihr Mensch in sie getätigt hat. Auch Wildtiere, gerade in der Hitze und Trockenheit, die wir zunehmend erleben!

Meine Hündin Luna z.B., die auch in den therapeutischen Sitzungen in meiner Praxis dabei ist, ist in der wichtigen Sozialisierungsphase ihres Welpendaseins viel zu viel allein gelassen worden. Sie erlebt Todesangst, wenn sie heute alleine bleiben muss und wir schaffen es nur ganz langsam, sie zu stärken und innerlich zu kräftigen. So ein Hund gewöhnt sich Kompensationsmechanismen an, um die eigene Angst und Hilflosigkeit nicht spüren zu müssen, genau wie wir Menschen. Bei Luna sind das z.B. lautes Bellen und Drohen, genau wie bei vielen Menschen. Sie braucht (und bekommt) täglichen Schutz und Rückhalt, genauso wie klare Regeln und viel Konsequenz (ein dauerndes, stilles Verbeugen vor den Lektionen des weißen Katers).

Ein Tier in unserem Leben kann uns, so wir denn bereit sind, hinzusehen, hinzulauschen, hinzufühlen, auf Bereiche aufmerksam machen, in denen wir uns vor uns selbst und unserer Verantwortung uns selbst und unserer Umwelt gegenüber davonstehlen. Manche Tiere sind großzügiger, manche knallhart. Lassen wir uns von ihnen und ihren wertvollen Botschaften täglich aufs Neue berühren und bereichern, lernen wir, täglich zu lernen, täglich wieder auszuprobieren, wie wir uns uns selbst stellen können.

Der weiße Kater war nie „schuld“ an meiner Verzweiflung, Wut oder Hilflosigkeit und er wollte mich auch nie böse ärgern, wenn er einfach nicht aufgehört, immer weiter gemacht hat mit seinen Demonstrationen. Er war ein glasklarer, stahlharter Lehrer und ich eine nicht immer bereitwillige und einsichtige Schülerin. Aber ich habe seine Lektionen zutiefst verinnerlicht und er ist noch oft in meinen Gedanken und meinem Herzen.

Ich habe ein Foto von ihm, wo er, ein paar Monate vor seinem Tod, in einem geflochtenen Papierkorb sitzt, der im Sonnenschein auf meinem Schreibtisch steht. Die Blumen vor dem Fenster werfen schöne Schatten auf ihn und den Tisch und es ist ein ganz friedliches, zartes Bild voller Witz und Lebensfreude. Und in den Augen des Weißen steht nur eins: Liebe.