Lebe ich so, wie ich wirklich leben möchte?
Authentizität ist ein Wort, das, je nachdem in welchen Kreisen man sich bewegt, ziemlich oft fällt. „Der verhält sich aber nicht authentisch“, „kommt das authentisch rüber?“, haben viele sicher schon gehört oder selber benutzt. Aber was steckt dahinter?
Wer authentisch sein möchte, möchte glaubwürdig sein, überzeugend, echt. Das kann selbstverständlich auch auf eine manipulative Weise genutzt werden, mehr Schein als Sein sein und trotzdem überzeugend wirken.
Echte Authentizität aber ist freilich etwas anderes, setzt aber auch einiges voraus.
Ein Mensch kann nur echt, glaubwürdig und wahrhaftig wirken und auch sein, wenn er weiß und fühlt, was echt und wahrhaftig überhaupt ist. Nicht in einem allgemeinen Sinn sondern ganz speziell auf ihn gemünzt, ganz individuell.
Die Frage „wer bin ich?“ ist nur scheinbar einfach zu beantworten.
In einer Vorstellungsrunde auf einem Seminar oder in einem ähnlichen Kontext wir oft zu Beginn in die Runde gefragt „Wer seid ihr? Stellt euch doch bitte einmal kurz den anderen vor!“, woraufhin jeder seinen/ihren Namen nennt, vielleicht noch Alter, Beruf, Position oder private Details wie ob man Kinder hat oder das individuelle Ziel der Teilnahme.
Dadurch haben die anderen den Menschen gesehen, seine Stimme gehört, den Namen und wissen ein paar wenige Fakten. Sie würden ihn oder sie vielleicht wiedererkennen und sich erinnern „Ah ja, das ist die Manuela, die in einer Druckerei arbeitet und zwei Kinder hat“.
Wenn in der gleichen Situation dann weitergefragt werden würde, z.B. „Ok! Danke! Jetzt wäre es schön, wenn jeder/jede ein paar Begriffe sagt, die ihn/sie etwas näher charakterisieren!“, träte vielleicht betretene Stille im Raum ein. Das fällt schon deutlich schwerer. Der eine oder die andere würde vielleicht versuchen, mit der Benennung von Hobbys oder Interessen um die Aufgabe herumzuschiffen. „Ich bin Frank und segle total gerne, außerdem lese ich und backe Brot.“. Ja, das ist interessant und gibt sicherlich Futter für ein paar spannende Gespräche in der Pause, beantwortet die Frage aber noch nicht wirklich.
Was charakterisiert mich? Wer bin ich? Wie bin ich?
Schwierig.
Die groben Fakten, Name, Alter, Beruf, Familienstand, Wohnort etc. können die meisten problemlos preisgeben. Wer Erfahrung mit Stalking oder ähnlichem gemacht hat, vielleicht schon nicht mehr so problemlos.
Weitere Fakten, Hobbys, Interessen, Wochenendbetätigungen, ehrenamtliches/politisches/kirchliches Engagement kommt vielen auch noch leicht über die Lippen. Warum auch nicht.
Und dann wird es interessant. Wenn weiter geforscht wird, stoßen viele plötzlich auf Ebenen, die es kompliziert machen können. „Kann ich jetzt hier sagen, dass ich mich total liebenswert finde? Ich kenne die Leute ja gar nicht“. Oder das Gegenteil: „Ich finde mich häßlich und unattraktiv aber das werde ich ganz sicher niemandem sagen!“.
Was vielleicht als erstes in den Raum gebracht wird, könnten Dinge sein wie „ich kann ganz gut kochen, sagt meine Familie“, „meine Kinder sind immer froh, wenn ich für sie mal Hammer und Säge schwinge, das kann ich gut, glaube ich“. Oder: „ich kann gut zuhören!“. Merken Sie was? Zuerst kommen die Fakten und dann die Leistungen. Alles Dinge, die in unserer Gesellschaft als „gut“ angesehen werden. Es könnte auch benannt werden „ich bin total ungeduldig!“. Das sagen viele, denn auch das ist gesellschaftlich sehr akzeptiert. Wer ungeduldig ist, möchte was geschafft kriegen, ist fleißig und hat keine Lust auf Warterei. Das hören man gerne.
Immer noch keine wirklichen Antworten auf „Wer bist du?“, oder?
Natürlich machen all diese Dinge uns Menschen aus, na klar. Wir sind Mosaike aus den groben Fakten wie Name, Adresse, Alter, Schuhgröße, Beruf, Errungenschaften, Leistungen, Fähigkeiten, „Schwächen“ und vielem mehr.
Wenn Teilnehmer in der Runde jetzt anfangen würden, etwas zu sagen wie:
„Ich bin ein eher ruhiger Mensch, eher introvertiert. Ich bin gern mit Menschen zusammen aber nur in Maßen und nur mit bestimmten Menschen, anders wird es mir schnell zu viel. Ich höre lieber zu als dass ich mich mitteile und mache mir viele Gedanken. Ich beobachte gerne und lerne dadurch viel über das Leben. Kinder mag ich aber ich wollte nie eigene haben. Ich brauche viel Ruhe und Zeit für mich und ich denke, ich wäre Kindern nicht gerecht geworden. Wenn Freunde ihre mitbringen, ist das für ein paar Stunden ok, dann bin ich wieder froh, wenn ich alleine bin. Mein Job in der Bücherei ist gut für mich, da ist es klar, ruhig und strukturiert und ich habe nicht allzu viel mit Menschen zu tun. Direkter Augenkontakt macht mich manchmal nervös aber es gibt auch Zeiten, wo ich aus mir rauskommen kann und dann kann ich richtig witzig sein. Das gefällt mir, passiert aber leider nur selten. Manchmal bin ich traurig und einsam, manchmal weine ich deswegen. Eigentlich hätte ich gerne mehr Kontakt zu Menschen aber ich weiß nicht genau, wie das geht.“, könnte es sein, dass die Stimmung im Raum sich verändert. Das war ein sehr ehrliches Mitteilen und erfordert etwas Mut, vor allem in einer Gruppe von fremden Menschen.
Vielleicht würde jemand anders dann etwas sagen wie:
„Ich bin oft ziemlich unter Druck. Ich habe so oft das Gefühl, etwas zu verpassen! Mein Tempo ist echt schnell und ich nerve mich selbst dadurch oft und es tut mir nicht gut! Ich bekomme Herzrasen und kann nicht mehr so klar denken. Ich würde gerne langsamer machen und mir mehr Zeit nehmen für die einzelnen Dinge oder mal auf einer Bank sitzen und einfach nur angucken, was da ist. Aber das kriege ich nicht hin. Ich würde gleich wieder aufspringen und weiterrennen. Es gibt ja immer etwas zu tun und abends bin ich manchmal verzweifelt. Denn ich habe gar nicht das Gefühl, wirklich zu leben. Ich renne nur!“
Oder:
„Ich liebe meine Kinder! Ich habe fünf Kinder und tue alles für sie. Sie sind zum Glück noch in dem Alter, wo sie mich viel brauchen und das erfüllt mein Leben sehr. Sie bringen oft Freunde mit nach Hause, die oft auch bei uns übernachten. Wir haben ein großes Haus und Platz genug. Das macht natürlich eine Menge Arbeit! Aufräumen, sauber machen, kochen! Manchmal sind wir tagelang 12 oder 14 Leute im Haus und alle haben Hunger! Und ich arbeite nebenher noch ein paar Stunden im Betrieb! Aber es macht mir einfach viel Freude, so gebraucht zu werden und ich denke mir immer neue Sachen aus, die wir gemeinsam machen oder unternehmen können. Mein Mann und ich haben uns im Laufe der Jahre etwas entfremdet, wir sind andere Menschen geworden im Laufe der Zeit und manchmal habe ich Angst, dass wir uns gar nicht mehr kennen. Er arbeitet Vollzeit und ist viel unterwegs, manchmal haben wir keine Zeit für uns und ich erfahre tagelang nicht, wie es ihm geht oder was er macht. Immer nur die Alltagsdinge, die besprochen werden. Ich mache mir schon Sorgen, wie das wird, wenn die Kinder älter werden, mehr selbständig unterwegs sind und irgendwann ausziehen!“
Oder:
„Ich hatte lange eine sehr verantwortungsvolle Position in meiner eigenen Firma, das war ein doppelter Vollzeitjob, ich habe das sehr ernst genommen und mein Wissen und meine Erfahrung sehr genossen. Ich habe mir frühzeitig Gedanken darüber gemacht, wie es wird, wenn die Rente kommt. Ich bin nie in ein Loch gefallen, weil ich alles gut vorbereitet habe. Ich kann sehr gut planen und organisieren, das war mein Job, fast 50 Jahre lang. Ich habe nach Möglichkeiten gesucht, das auch weiterhin anwenden zu können. Ich kann gut mit Menschen, ich mag Menschen und ich genieße es, dass jetzt kein Geld mehr involviert ist. Meine Rente ist sehr gut, ich arbeite jetzt nur noch ehrenamtlich in verschiedenen Positionen. Unter anderem als Leih-Opa! Das hätte ich nie gedacht, das hat mir meine Tochter vorgeschlagen. Das macht richtig Spaß! Nicht bei ganz kleinen Kindern sondern bei jungen Teenagern. Die treffe ich zuhause oder im Ort, wenn die Eltern keine Zeit haben oder inzwischen auch, wenn die Kinder das von sich aus möchten. Und wir unternehmen was oder wir reden einfach. Ich helfe denen, das kann ich gut, da erstaune ich mich selbst! Die sind oft so verwirrt mit den ganzen Hormonen und so, all dem, was das langsame erwachsen werden so mit sich bringt. Ich erkläre ihnen die Welt und zeige Möglichkeiten auf. Und es scheint anzukommen, sie rufen mich immer wieder an und fragen, ob wir uns wieder treffen können. Das erfüllt mich sehr! Natürlich muss ich auch manchmal sagen, dass etwas doof war, eine blöde Entscheidung oder eine blödes Verhalten. Das kann ich, ich musste jahrzehntelang Personalgespräche führen, war ein halber Mediator. Es ist toll, die eigenen Fähigkeiten so gut weitergeben zu können!“
Was haben wir hier? In allen (fiktiven!) Beispielen finden wir Reflektion, Ehrlichkeit, Wahrheit, Mut. Das braucht es für authentisches Verhalten.
Sehr viele Menschen möchten gewisse Dinge über sich selbst lieber nicht wissen. Wie sie in einer herausfordernden Situation reagieren würden. Würden sie dem anderen helfen oder lieber die eigene Haut retten? Wenn es um viel Geld ginge, würden sie das Geld einem bedürftigeren Menschen überlassen, teilen oder alles für sich haben wollen? Wenn man Teil einer Gruppe ist und die Gruppe beginnt, einen anderen Menschen zu mobben, hätten sie den Mut, sich gegen die Gruppe zu stellen? Usw., usf.
Wir sehen uns oft lieber in einem schöneren Licht als uns der Wahrheit zu stellen. Oder wir machen uns selber lieber nieder als uns der Wahrheit zu stellen, auch diese Variante ist sehr häufig zu finden.
Beschönigen, Abwerten, Verdrängen. Das sind die Hauptmechanismen, die wir anwenden, wenn wir uns mit etwas oder vielem in uns nicht auseinandersetzen wollen.
Seine eigene Wahrheit zu leben, das auszusprechen oder überhaupt nur zu denken, was man eigentlich möchte oder eben nicht, wie man eigentlich leben möchte, was man eigentlich tun möchte – oh, das kann sich sehr bedrohlich anfühlen!
Wenn man in einem Haushalt aufwächst, in dem die akademische Laufbahn das A und O ist, man selbst aber lieber Handwerker oder Künstler werden möchte oder statt Arzt lieber Arzthelfer, wie entscheidet man sich? Für die Meinung der anderen, für die Anerkennung, die Wertschätzung, das zur Gruppe gehören oder für sich und „die andere Meinung“? Nicht alle haben die Kapazitäten oder den Mut, sich gegen die eigene Familie/Gruppe zu stellen, wenn diese die andere Wahl nicht gutheißen würde.
Das ist tatsächlich ein wichtiger Faktor. Wenn man früh lernt, dass Diversität, „anders sein“, anderer Meinung sein, einen anderen Weg gehen völlig ok ist, ist es oft (aber nicht immer) auch leichter, die hellen und die dunklen Seiten in sich selbst zu akzeptieren.
Wenn man früh lernt, dass das andere eben nicht gut ist, nicht gern gesehen wird oder sogar aktiv beschämt, erniedrigt oder gar ausgestoßen wird, entscheidet man sich im Zweifel gegen sich selbst. Oder es erfordert sehr viel Kraft und kostet viel, sich für sich zu entscheiden.
Es braucht ein gewisses Vertrauen ins Umfeld, um sich für sich entscheiden zu können.
Und da kommen wir an den springenden Punkt.
Manche Menschen sind sehr klar, stehen zu sich, zu ihrer Meinung, können anecken und knicken trotzdem nicht ein. Ob sie authentisch sind im Sinne von „zu sich stehen, seine Wahrheit leben“ kann man von außen nicht beurteilen. Sich selbst wirklich leben und immer seine Meinung sagen, hat nicht unbedingt etwas miteinander zu tun.
Kommen wir noch einmal zum Anfang zurück. Vielen Menschen fällt es sehr schwer, beschreiben zu müssen, wer sie sind, wie sie sind, weil sie sich selbst gar nicht wirklich kennen. Wir sind sehr gesellschaftlich geprägt, sozialisiert, konditioniert. Das tut man nicht, das schon, das ist gut, das nicht, das gehört sich nicht als Mann/Frau!
Die eigene, tiefe Stimme ist manchmal zu leise, wird zu schnell weggedrängt, hat noch nie den Raum bekommen, den sie bräuchte und hört irgendwann auf, es zu versuchen.
Oft ist es der Körper, der irgendwann ein oder mehrere Zeichen setzt. Das kann alles mögliche sein, von Kopfschmerzen über dauerhafte Erschöpfung, Sehprobleme, Verdauungsprobleme, Infektanfälligkeit, Schmerzen, es kann jedes Organsystem sein, das symbolisch für das tief verdrängte auftritt und sagt: „Hallo! Hier stimmt was nicht!“.
Denn die Frage, die sich jedem von uns stellt, könnte lauten: „Lebst du eigentlich wirklich?“ oder „Lebst du wirklich dich oder einfach irgendwas?“ oder eben „Weißt du eigentlich, wer du wirklich bist? So ganz tief drinnen?“.
Denn leben tun wir ja alle. Irgendwie. Wir stehen auf, essen was, arbeiten oder arbeiten nicht, essen irgendwann wieder, kaufen ein, kümmern uns um Kinder, Kollegen, Nachbarn, Eltern, den Garten, den Hund, das Auto und gehen wieder schlafen.
Und ist das das, was du wirklich, wirklich tun willst? Was deine Augen leuchten, dein Herz singen lässt? Dich mit tiefer Zufriedenheit erfüllt? Lebst du wirklich dich und deine Wahrheit?
Alltag muss sein, Haushalt auch, Einkaufen ebenfalls, klar. Das ist selbstverständlich und auch gar kein Problem, wenn drumherum wirkliches Leben stattfindet. Und natürlich kann auch der Alltag, der Abwasch, das Staubsaugen wirkliches, wahres Leben sein, denn es organisiert den Hintergrund, vor dem die Freude leuchten kann. Und ein dauerhaft freudiges Leben ist nicht das Ziel, das menschliche Leben operiert in Phasen wie Tag und Nacht, Ebbe und Flut, Freude und Normalität, Begeisterung und Gelassenheit, Produktivität und Ausruhen,...
Vor dem eigenen, tiefen, wahren Selbst stehen oft so viele Bewertungen, Beschämungen, Abwertungen, moralische Urteile, Gewohnheiten, Bequemlichkeiten, Erwartungen... es kann völlig zerdrückt und eingequetscht werden. Aber meistens gibt es nicht auf. Es wird vielleicht leiser aber wenn das wahre Selbst leiser wird, wird die Unzufriedenheit und der Schmerz meist größer. Wahre Freude und wahre Zufriedenheit geht meist mit großer Ehrlichkeit und großem Mut sich selbst gegenüber einher.
Wenn Sie auch neugierig sind, wie Ihre eigene innere Wahrheit aussehen könnte, wenn Sie das Gefühl haben „irgendwas fehlt!“, wenden Sie sich gerne an mich. Ich begleite Sie sehr gerne auf Ihrer Reise zu sich selbst!